Morgens saß ich allein in der Küche und im Radio klang es so, als ob die schrille Kumpeltonwerbung für den Autohandel eine „Abfuckprämie“ versprach. Ich fragte mich, ob irgendein Spaßvogel aus diesem Verhörer schon eine Punchline, ein Tweet oder ein anderes doofes Bonmot gebaut hatte. Es war wieder so ein Tag, an dem mich alles Leichtfüßige, jeder erstbeste Witz und jede großspurig ausgewalzte Einfältigkeit deprimierten. Außerdem war Benjamin Blümchen jetzt auch tot, sagte das Radio. Jedenfalls der Mann, der seine zweite Stimme war. Edgar Ott war ja schon viel länger her gestorben. Aber beide Stimmen waren alt, und für mich – als Vater meines viel zu jung gestorbenen Kindes – waren tote alte Menschen auf groteske Art etwas nicht so schlimmes. Und dass die Moderatorinnen lustig „Töröö“ machten, nahm dem Ableben dieses Elefantensprechers auch etwas von der dicken Haut der Traurigkeit. Auch als die Queen im letzten Jahr gestorben war – das war während der ersten Wochen nach Karls Tod – war das, dieser Tod der alten Tante, im Vergleich mit dem Tod unseres Kindes, irgendwie nichts, das mich nachhaltig erschüttert hätte. Die Trauer ist egozentrisch, die Trauer geht in alle eigenen Räume. Man kennt sich dann gut aus darin. Man kann die Trauer der anderen nun besser erahnen. Aber wenn ein altes, lang gelebtes Leben zu Ende geht, bleibt etwas verwirrend Akzeptables daran – es ist vielleicht nichts konkret „Richtiges“ daran. Aber es ist ganz klar faktisch und vom Herzen her völlig falsch, wenn ein junger Mensch, wenn das eigene Kind stirbt.

Und die Hörspielkassetten bleiben ja da. Benjamin Blümchen gibt es bestimmt auch im Stream. Und mein Buch ist jetzt da und auch das bleibt. Das war kurz was, womit ich mich – bei aller Falschheit – abfinden konnte. Und ich dachte, wie diese seit einigen Wochen geschriebenen Texte hier auch etwas sind, das so rausflutet. Anders als die Einträge im Buch, aber auch diese Texte sind etwas, das ich Tage später wieder vergessen habe. Auch das ist ein reinigendes Schreiben, dachte ich, und hatte dann testweise gleich, auch weil ich für das Elsterbuch endlich eine Schriftart gefunden hatte, eine Datei für sein Nachfolgebuch angelegt. Ein kleines, schmales Buch, 110 Seiten vielleicht. Ein kleines Ding, in das man immer wieder reinlinst. Im besten Sinne ein Klofensterbrettbuch. Was für die Tasche, ein Unterwegstext. Das war ein guter, nicht völlig falscher Gedanke, aber was ein kleines bisschen dagegen sprach, war die Tatsache, dass diese Texte seit Tagen wieder spürbar länger wurden. Im Instagram musste ich diese Texte auf mehrere Kommentare aufteilen und überhaupt fühlte sich dieses Gehen ins Sozialmedia schon wieder ein kleines bisschen bescheuert an. Als gehörte die Trauer dort nicht hin, zwischen den ganzen Blödsinn, die drolligen Stories und die Billig-Bonmots.

Mittags Pizza im Restaurant. Danach Planschbecken und Sonne im Garten. Der Tag hatte was helles, der Gartenschlauch sprühte einen Regenbogen in den Hofgarten und ich machte random romantische Photos von den Blumen, den Bienen und dem Licht – und die könnten doch auch ins hier entstehende Buch. In Farbe, als fände das Schreiben über die Trauer jetzt in andere Spektren.

Später war ich noch Papiermüll wegbringen mit dem Kind. Am blauen Schacht war mit einer Etikettiermaschine ein schmaler Streifen „HAPPY“ draufgeklebt. Tagsüber kam eine neue Buchbestellung rein. Sie kam aus einer anderen Stadt und beim Verpacken des Buches hatte ich wieder, wie jedes Mal, wenn ich eines aus der Hand gebe, im Buch geblättert und war kurz durchgeschwiffen, in der kindlichen Idee, als wäre ich diese andere Person. Als läse ich mein Leben zum allerersten Mal.


Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.

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