Der Monat rieselte seine letzten Tage runter und die Stadt hatte sich zurückhaltend schick gemacht für den Caspar-David-Friedrich-Tag. Auf dem Marktplatz altertümlicher Budenzauber mit Kettenkarussel und Gauklerbühne. Alles war dem alten Maler gemäß hergerichtet, dem Anschein nach stromlos, aber aus den Verteilerkästen krochen trotzdem die Kabel und Schläuche zu den Saft und Wasser brauchenden Stellen. Sie tat so als ob, aber die Gegenwart war gar nicht in der Vergangenheit. Sie hielt sich an ihr fest und holte Sachen von damals raus, aber eigentlich war es ein ganz schönes Theater. Die Nostalgie der Anderen – das war kurz die Schlagzeile zwischen meinen Ohren – stimmte mich irgendwie trübe.

Am Haudenlukas war der Hammer größer als mein zweieinhalbjähriges Kind und zusammen hauten wir den Pömpel bis zur 20 hoch. Als wir Freunde trafen, fragte ich – als kleinen, lahmen Spaß – wo denn hier der „Ultra Break Dance 3000“ aufgestellt sei. Der Tag trudelte so dahin und mir war eigentlich schon wieder alles zu viel. Es war zwar nicht wie im letzten Jahr, als dieser Rummeltag der Tag nach seiner Beisetzung und der sich daran anschließenden, bis in die tiefe Nacht gehenden Gartenzusammenkunft war, wir waren heute nicht verkatert, aber alles vom Vorjahr schwang immer mit. Das Vorjahr war das Jahr, in dem er gestorben war und eigentlich hätten wir den Lukas zu viert hochhauen müssen. Es ist egal ob mit Jahrmarkt oder ohne: die Trauer sucht sich ihre Plätze, ist eigentlich immer da, hat einen festen Platz im trauernden Menschen, ist ein notdürftiger Platzhalter für den zu betrauernden Verlust und hält damit das Kind immer auch in einem fest.

Also war Karl natürlich auch irgendwie mit. Aber er fehlte, als derjenige, der seinem kleinen auf der Kinderschiffschaukel schaukelnden Bruder eigentlich jetzt gegenüber sitzen müsste. Ich war etwas dünnhäutig, hatte Hunger und es gab wieder diese sich vordrängelnden Vertreter überambitionierter Volksfestväter, die den Thementag des romantischen Malers mit galligen Farben versauten. Im St. Spiritus gab es immerhin einen guten Zwiebelkuchen. Nach Federweißer war mir nicht, der Tag war noch jung, und auch der Federweißer war ein Hinzeiger zu einer Zeit vor den Kindern. In den 800 Buchseiten war ich auch dort immer wieder hin: in all diese Zeiten vor den Kindern. Sie waren – ausgemalt von der vom Kummer nochmal neu aufgestellten Palette meiner Lebensgefühle – immer auch etwas, das jetzt zu meinem Leben mit den Kindern dazugehörte. Die Kinder waren jetzt das Zentrum, mein ganzes vorheriges Leben war irgendwie was drumherum rumschwingendes. Das Leben war kein lineares Gestolper mehr, sondern es hatte jetzt einen Mittelpunkt. Aus dieser Mitte wurde vor gut einem Jahr etwas unwiederbringbar herausgerissen. Und es war eine dieser ab jetzt zu machen müssenden Sachen: sich im Leben nicht selbst völlig zu entkernen.

Also gehe ich auch weiterhin immer wieder dadurch: durch diese gesamte Palette. Das war jetzt so das, was man noch machen konnte: sich nicht völlig dicht zu machen.

Nachmittags fuhren wir nach Lubmin. Hier hatten wir den Sand geholt, den ich durch meine Hände in Karls Grab hatte rieseln lassen. Es gab Blüten und Sand. Alle warfen irgendwas rein. Jetzt waren wir wieder hier, am Wasser, im Sand und unter den bis hoch oben hin astlosen Kiefern. Ich musste an die Photos denken, die ich hier vor mehr als zehn Jahren gemacht hatte.

Diese Bilder hatte ich, als eines der ersten zaghaften Projekte nach der Geburt der Kinder, in einer Ausstellung im langen Innenstadtkunstschaufenster hingehangen. „Wohltemperierter Lärm“ hatte ich diese kleine Werksicht genannt und hatte dort diese lange unangefasst gelassenen, grieseligen Rauschbilder ausgestellt, die ich eine Zeit lang in großen Mengen angesammelt und seriell zusammengestellt hatte. Es waren eher Farbflächeneskapaden natürlich, ich hatte sie auf großes Format gezogen und zusammen mit einigen kleinen Nebenbildern als eigene Einheiten aufgehangen. Das hatte endlich Sinn gemacht. Ich hatte viele davon für musikalische Projekte vorgesehen, CD-Cover von meinen Kleinsteditionen undsoweiter, aber das war nicht richtig das, wo diese Sachen hingehörten, überhaupt hatte ich lange nichts mehr veröffentlicht, schon gar keine CDs oder Tapes mehr gemacht. Als große Ensembles war das mit den Bildern jetzt schon eher was. Also hatte ich alles Geld verscheuert für diese Hartschaumplattenabzüge und baute dann allabendlich, wenn die Kinder schliefen, an dem Ausstellungsaufbau herum.

Es war hochsommerlich heiß hinter den Fenstern und ich kam, nachdem ich dort in den dünnen Abendstunden, wenn die Kinder im Bett waren, an meiner HÄNGUNG gebastelt hatte, immer klatschnass aus dem schmalen Raum raus. Zwischen den Bildern hatte ich diese Klanginstallation aufgebaut. Auch sie war eine Hängung. Ich hatte fünf Gitarren und einen Bass nah beieinander, in Dreiergruppen, in Reihe aufgehängt und links und rechts starke, durch Zeitschaltuhren verwaltete Ventilatoren platziert. „HUNG“ hieß die Installation dann und die Instrumente hatten über die Wochen der Ausstellung diese schönen, von mir aus auch sinnbildlichen Stoßschäden vom klangvollen Aneinandergebaumel bekommen.

Jetzt, zehn Jahre nach diesen Farbflächen, diesen jungen Rumstromerjahren im Wald, zwei Jahre nach der Ausstellung und ein Jahr nach Karls Tod, sah Lubmin noch genauso aus, die Bäume – wir Menschen sowieso – vielleicht etwas borkiger, immer noch hoch, bis obenrum ohne Äste, als machten sie sich extra schmal im Gedränge, vielleicht war insgesamt alles etwas krummer, als duckte sich die ganze Welt, jedenfalls mein erweitertes Drumherum, für das ich ja seit dem Trauern noch einmal mehr hochsensibilisiert war, jetzt etwas kauernder unter den übers All und über Alles draufgepappten Weltdeckel.

Das waren alles große Worte für diese kleinen, nah am Verzagen nagenden Gefühle, die mir da durch den Kopf gingen. Aber eigentlich war es gar nicht viel Text, der in mir ratterte, das kam erst später, hier, beim Schreiben jetzt. Ich machte stattdessen dutzende Bilder und nach dem Grillen gingen wir dann die paar Meter runter zum Spot für den besten Sonnenuntergang, saßen auf der Bank, schauten ins Licht und liefen zwischen den Kiefern, gingen runter zum Wasser, wo die Strandkörbe aufgereiht standen, wie kleine, sichere Kapseln, mit denen man sich wegschießen könnte, falls das Mutterschiff mal kaputt ginge.

Kleine, alles umfassende Weltall-Gefühle in mir, während die Sonne hinterm Wasser zu ihren anderen Lichtorten runterschlüpfte. Woanders brauchen die Leute auch Licht, da war es okay, dass unser Tag hier erstmal zu Ende war und ich hatte Rückreisemelancholien, als wir, es war schon dunkel, zurück in die Stadt fuhren und Paul sich nach jeder Landstraßenkurve immer wieder umdrehte, um sicher zu stellen, dass der Mond noch irgendwo da war.