Nach dem unterkühlten Augustende war diese erste Woche des Septembers wieder irre heiß. Ein Zahn hatte neue Mucken gemacht und puckerte. Ich war fahrig und alles strahlte schon wieder unschön ins Herz.

Die Baustelle hinterm Klinikum ist immer noch nicht weiter. Vor einem Jahr, ich war mitten im Schreiben dieses dann zu 800 Buchseiten gewordenen Textes, hatten sie gerade ein, zwei Geschosse aufeinandergesteckt. Wochen später kam dann noch das dritte dazu und seitdem war nicht viel passiert und so ist diese Baustelle auch ein Relikt aus jener Zeit und ein Draht zurück, zu ihr hin, und irgendwie war es gut, dass sie auch heute morgen so unkomplett und grau auf halber Strecke zur Maloche stand.

Ich war wieder das alte Zickzack gefahren, über das Klinikumsgelände und den Parkplatz hintendran. Ich hatte nicht die lange, lichtsatte Fahrradmagistrale an der Unibibliothek genommen. Das triste Revier kurz vor den Ampeln, wo die Männer am Bauzaun stehen und wie Kinder auf die Vehikel starren, war mir näher.

Die Baustelle unterm krangelben Blechsaurier, das blaue Dixieklo vor dem Fenster der Interdisziplinären und auch die Bauarbeiter an unserer Hausfassade: es gibt diese ein, zwei Dutzend wiederkehrenden Motive im Elsterbuch. Der ganze hingedonnerte, hunderttausende Worte lang ein Weiterleben suchende Text hat mit all diesen Koordinaten eine seltsame innere, und ja, auch heilsame Kohärenz. Bei meinen Durchsichten des Textes hatte ich angefangen, ein Register zu erstellen. Auf welchen Seiten also Elstern, Dixies, Kräne, diese und jene Musiken (von Yo La Tengo bis Pharoah Sanders war vieles dabei), Monde, Birken, Pappeln, Podcasts, Hebammen, Frühverrentete und Stadtirre, wo also all diese Anzeiger und Artefakte auftauchen, die irgendwas mit meinem und unseren Leben zu tun haben. Das ganze Buch war irgendwann sowas wie kartographiert. Ich hatte mit all diesen Hieb- und Stichworten den insgesamten Text wie eine Art GEBIET im Kopf, wusste wo was war, freute mich immer, wenn ich beim Korrekturlesen an bestimmten Stellen angelangt war, als käme ich endlich wieder irgendwo an. Auch im Vorwort, das ich wie ein wirres, kurzes Wunder einfach so, ohne Hast, Angst und Zweifel in einer kleinen, leisen Viertelstunde niederschrieb, war das so ein gesagter Satz: der Text ist mein Terrain.

Die Woche war tagsüber also nochmal hochsommerlich heiß. In den Läden seit Ende August schon Weihnachtswaren. Das war wie jedes Jahr völlig grotesk, aber wie jedes Jahr nervte auch die im Internet einem in naseweis-konsumkritischen Posts überall unterkommende Empörung darüber. Das Problem sind ja nicht die Waren im Laden, sondern das System oder irgendein anderer Scheiß dahinter. Die Lust der Menschen an Regelmäßigkeiten in einem von Serienstaffelhalbfinalen und Ferrero-Sommerpausen gut auskartierten Leben. Vielleicht waren einfach Feiertage insgesamt das Problem dahinter, hatte ich dann wie ein Blödian gedacht und fast ein bisschen kurz und laut gelacht, beim Radeln durch irgendeinen Ort, der wieder nur Kulisse war für meinen Körper, der nur Hülle war für den puckernden Zahn und den brütenden Kopf. Vielleicht war auch Körperlichkeit das Problem hinter allem. Eigentlich war natürlich sein Tod das Problem in unserem Leben. Aber über all die Zeit stimmte auch das nicht mehr so richtig: es war kein Problem, es war ein unfassbar trauriger Fakt und nur die Gewissheit, dass der Tote, weil er ja tot ist, kein Problem damit hat, weil der Tod keine Grübeleien kennt, weil der Tod für den Toten das Ende all dessen bedeutet, war – auch das naiv, vielleicht – als Gedanke am Ende auch eines: tröstlich.

Und am Abend hatte ich dann diverse Schrottgitarren aus dem Keller geholt und eine kleine Rumpelklimperkiste aus den Einzelteilen gebastelt. Ich war in den Tagen wieder an uralte Musikskizzen gegangen und hatte, aus einer ähnlichen Nostalgie heraus, nochmal mein allererstes Handy im Internet bestellt. Ich war 2006 verhältnismäßig spät erst mobil erreichbar geworden, aber es fühlte sich mehr als eine Ewigkeit her an. Auf diesem Handy hatte ich vor bald 17 Jahren manche Skizzen aufgenommen und es war jetzt irgendwie wichtig, genau mit diesem Sound, diesem blechernden Mobiltelefonmikrofon und dem extrem komprimierten Codec der damit aufgenommenen Sprachmemos, neue Skizzen einzuspielen. Auch waren die mit diesem Handy gemachten Photos etwas, das mit dem Roman zu tun hatte. Das alles waren neu aufgemachte Baustellen und Blickwinkel, emotional und texttechnisch, vielleicht ja auch irgendwas zuträglich.

Wegen des Zahns hatte ich dann an den Abenden nichts am Text gemacht. Ich war immer früh ins Bett, in der Hoffnung, dass ein bisschen Mehr an Schlaf alles mal etwas ausleveln und vielleicht neue Energien freisetzen würde, für neue schlaflose Schreibeskapaden. Am Ende waren die Sonnenblumenkerne schuld. Ein Schalensplitter hatte sich ins Zahnfleisch getrieben und mit etwas Myrrhe zog sich das Puckern dann allmählich zurück und mir war den Rest der Tage einfach irrsinnig heiß und ich saß mit meinem späten Mittagessen nach dem Job erstmal ein paar Minuten wie ein redlicher Niemand vor meinem mich leise anbrüllenden Ventilator.


Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.

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