Man musste all die Jahre immer von außen beim Zumachen ein bisschen fester ziehen. Man musste einen bestimmten Punkt überwinden, damit es richtig einschnappte. Irgendwas war innendrin ziemlich kaputt, es ging irgendwie, wenn man richtig drehte und ein bisschen dran ruckelte, aber heute morgen war es dann völlig hin. Also verwarfen wir alle Ausflugspläne und waren zum Baumarkt gefahren, um ein neues Schloss zu kaufen.

Aus der notwendigen Türreparatur wurde dann ein ganzer Mallnachmittag. Wir trieben rammdösig durch die Einkaufspassage, aßen was vom Viêt-Thái-Imbiss und kauften, es war ja Monatsanfang, gleich noch mittelgroße Spontananschaffungen für den Haushalt.

Als das Schloss wieder richtig klinkte, saßen wir lange im Kinderzimmer und steckten die bunten Bausteine ineinander. Wir bauten den höchstmöglichen Turm und als er umfiel waren wir zum Naturerlebnispark in Gristow gefahren. Ein verwittertes, ehemals ordentlich laminiertes Schild sagte, dass der Park gleich schließen würde. Es war kurz vor Vier und für leichte Vergnügungen schien der Tag fast gelaufen. Aber der Mann, der im Bulli die Parkwege langruckelte, sagte, dass wir ruhig die große Runde machen sollen, wir könnten dann später einfach durch die Drehtür raus. Wir hatten uns erst kurz ein bisschen verfolgt gefühlt, er war immer ein paar dutzend Meter hinter uns oder wackelte furchtbar langsam auf einem der Stichwege zu den Tiergehegen hin und her. Aber er war dann wirklich sehr nett und er sah aus wie der schiefschrötige Bruder von Jean Pütz, als er sein Seitenfenster herunter ließ und hinter der Zigarillowolke wie ein schrulliger Ortskundiger auftauchte. Sein dünner Arm schlackerte ein paar Mal geradeaus und er erklärte uns, dass weiter hinten ein Hornissennest sei. Mit seinem Kinn zeigte er dann auf unser bald dreijähriges Kind und C.s hochschwangeren Bauch und empfahl uns, lieber in die andere Richtung zu gehen. Ich stellte mir vor, dass er hier irgendwo wohnte, in einem der bruchgelandeten Wohnmobile die hier ab und zu neben den Ställen und Unterständen standen.

Alles sah aus, wie ein verlassener Vergnügungspark, verwildert, mit Apfelbaumwiesen, Eseln, Schafen, Lerchen, Grasmücken, Drosseln und Zilpzalps. Ich hatte keine Ahnung, wie die komischen Vögel hier genau hießen, aber der Mann im Bulli war natürlich einer davon. Das triste Wetter tat gut, es war etwas, das mit meinem Innersten synchron war. Ich war immer schon Herbstmensch, alles Gedämpfte, alles Kühle, alles Entschleunigte entspricht meinem Wesen und es war seltsam, dass man mich als diesen, dem angenehm Trüben so zugetanen Menschen jetzt vielleicht immer von meiner Trauer, und nicht von meinem insgesamten Wesen her wahrnehmen würde. Denn irgendwann wird sie tatsächlich genau das: die Trauer wird Teil von einem, als ein Aspekt von vielleicht sogar mehreren. Denn das war ja auch die Kunst des Weitermachens: nicht ein einteiliges, eindimensionales Etwas zu werden.

Ich musste an den Spreepark in Berlin denken. An die Maiskolben, die ich dort vor 30 Jahren immer gegessen hatte. Irgendwie dachte ich auch an den Brighton Pier, an Coney Island, an andere verwitterte Orte und stillstehende Zeiten. Und ich fühlte mich – immer schon der gern zuhause bleibende Mensch – auf komische Art weit herumgekommen dabei. Irgendwie stimmte das auch. Nicht nur wegen New York. In diesem, vom Kindsverlust in der Mitte so zerhauenen Leben war dann doch schon einiges durchgelevelt, dachte ich, und war wieder in diesem sonderbaren Zustand einer Ruhe in Allem.

Während wir weiter so mit den Brisen zogen, als letzte Langwandernde durch das große Areal dieser grauen, weiten Landschaft, vom gütigen, rauchenden Bullimann zur großen Runde ermutigt, redeten wir über die Geburt. Paul trippelte hinter uns her und ging bei jeder Schnecke und jedem Insekt in diese kindstypische Forscherhocke und rief uns nach, gegen den Wind.

Es war ein angenehmer Herbstnachmittag, aber Karl fehlte. Gelegentlich schob sich das Bild seiner Lücke in meinen Blick auf das die Weberknechte beobachtende Kind. Die dünnen Spinnen liefen über den Betonweg schnell ins höhere Gras, damit der Wind sie nicht wegfing. Die Spielplatzspielgeräte waren alle etwas marode und auch die Drehtür quietschte rostig beim Rausgehen. Alles war mir hier nah.

Paul schlief abends schnell ein, wir Erwachsenen versackten noch ein bisschen auf dem Sofa, die neue Waage zeigte ungeahnte Zahlen an und beim Insbettgehen fiel mein Blick auf die Lichterkette in der großen Apothekerflasche zwischen den Büchern. Die Batterien sind eigentlich längst leer, aber sie leuchtet seit mehr als einem JAHR in diesem endlosen Restglimmer, den man nur im Nachtdunklen, bei einem müden Gang ins Bad, erkennen kann. Es sieht aus, als hätte jemand einen kleinen Kosmos in den bernsteinbraunen Humpen gestopft.

Irgendwie war es also möglich, in diesem Leben jetzt weiterzuleben, auch nach dem Tod des eigenen Kindes, es gibt sogar Tage, die einem ENTSPRECHEN, manchmal war sogar Licht im Leben, es gab gute Gefährten und auch die Tür ging ohne unwirsches Rumruckeln wieder auf, aber trotzdem war natürlich jetzt für immer dieser Rost in unserem Kosmos.