Ich war nur ein Gast. Kein Mitarbeiter, wie die Frau an der Kasse erst vermutete, und auch längst kein Student mehr. Ich bin dort ab jetzt immer ein Gast. Ein vorbeistromernder Wiederkehrer. Also zahlte ich den Gastpreis und wir suchten uns einen Tisch hinten bei der Spielecke.

Ich war nach einem Dümpelvormittag mit Paul zur neuen Mensa gefahren. Die Innenstadtmensa hatte Ferien und so war unser Besuch in der großen Mensa neben dem Klinikum auch schon wieder eine Reise zu einem Karlort. Dort war ich mit Karl mehrere Wochen auf Station. Es ist einer von vielen Orten meiner Trauer im Buch. Und irgendwie hatten wir es seit seinem Tod ein bisschen vermieden, mit Paul wieder zum Klinikum zu fahren. Immer wenn wir wieder hier waren, dachte Paul, wir würden Karl besuchen. Da waren sofort die Klöße im Hals. Aber mit den Monaten ist auch das irgendwie einfacher geworden – ihm in solchen Situationen zu sagen: Karl ist nicht im Klinikum. Karl ist nicht mehr da. Aber wir können immer an ihn denken, können ihn überall finden, wo wir an ihn denken, haben die Photos von ihm und bringen ihm die Steinchen ans Grab, die wir überall auflesen – an neuen und alten, an mit ihm verbundenen, oder auch an Orten, die Karl nie gesehen hat. Aber es sind immer Orte, an die wir ihn mit hin nehmen.

Karl ist nicht mehr da, aber er wird immer bei uns sein. Wie soll man also einem kleinen Kind sowas erklären? Auch in diese zerrupfenden Fragen sind wir in all den Monaten seither irgendwie reingewachsen. Und auch Paul scheint nach und nach mehr Vorstellungen vom Tod zu bekommen. Es bleibt alles abstrakt und unfassbar, auch ich, nach meinem monatelangen Schreiben, finde oft keine richtigen Worte dafür. Denn es ist nichts richtig daran. Man bleibt wortlos. Man schreibt hunderttausende davon hin und denkt am Ende nur: was ist mit diesen Worten los? Aber wir benennen es, wie es ist, wir reden darüber und erzählen davon. Wir sind nah bei uns, nah an unseren Gefühlen, die seit seinem Tod in völlig neuen Dimensionen in uns stattfinden. Manchmal, bei einem Abendbrot oder so, sagt Paul, er vermisst Karli so. Dann weinen wir oder sind auf warme Art gerührt, oder beides, und nehmen ihn in den Arm und erzählen ihm und uns von seinem Bruder. Wir sind mit all dem – den Worten, den Floskeln, den Tätigkeiten der Trauer – immer nah bei ihm. Auch der Tod als ein Zustand – oder was genau ist er eigentlich? – hat das Kind nicht völlig örtlich von uns getrennt. Zeitlich vielleicht – aber man lernt auch das: irgendwas aus der Zeit mit ihm mitzunehmen, rüber in diese Zeit ohne ihn. Und dafür sind sie dann wieder ganz nützlich: diese Worte.

Und so waren wir dann ohne ihn zur Mensa gefahren. Nach einigen richtungslosen Stunden am Morgen hatte wir uns dann – unter dem üblichen unorganisierten Papagetrödel und kleinen, meine eigene Trödelei entschuldigen wollenden „Bis man hier mal so los kommt“-Seufzern – endlich mal losgemacht. „Wir müssen jetzt echt mal los hier“ oder sowas hatte ich gesagt, in diesem saloppen Losmachlaberton. Der Klinikcampus mit der großen Glasfassadenmensa war weitläufig und grau. Paul fand das Krankenhaus eigentlich ganz spannend jetzt. Es schien kein konkreter Karlort mehr für ihn zu sein. Es war nun eher was aus den Kinderbüchern. Jeder Krankenwagen war ein großes Hallo und auf dem ziemlich ambientelosen, vollflächig zubetonierten Klinikvorplatz konnte man prima Laufrad fahren.

Im Buch bin ich ja ständig hier. Unterm Vordach der neuen Mensa hatte ich große Teile von „Frau Elster und der eingestickte Wal“ geschrieben, abends, wenn ich nach dem Friedhof mit dem Rad hierher gerast kam. Auch an die alte, mittlerweile geschlossene Innenstadtmensa hatte ich denken müssen. Auch über sie habe ich geschrieben. Meine Trauer führte mich in jahrealte autobiografische Regionen. In der alten Mensa hatte ich damals, immer so gegen halb zwei, im endlich abebbenden Esstrubel, oft meine Frühstücke gegessen. Ich hatte mir entlegene Tische gesucht und war ein schrulliger Twentysomething, der tagsüber eigentlich ganz gern allein, aber darin – wegen einem altersgerechten Mangel an Wesensreife – auch noch nicht so richtig geübt war. Vielleicht war ich auch einsam. Das war nicht so richtig trennscharf erkennbar, da die Nächte immer voll von Menschen waren. Ich las die auf den Tischen verteilten Flyer, wie als Kind die Cornflakespackungen und in der Spielecke wühlten die Kinder der jung Eltern gewordenen Studierenden herum.

Jetzt ging ich, dieser ehemalige, im verworrenen Stromern irgendwie auch ewige Student, mit meinem Kind in die Mensa und es gab keine Flyer mehr. Eine eingerahmte Infotafel wies darauf hin, dass ein entsprechender Aufsteller für Flyer und andere Infomaterialien zur Verfügung stehe und ein Auslegen an anderer Stelle nicht erwünscht sei. Ich erinnerte mich, wie schon damals die Flyerverteilermenschen dazu angehalten waren, ihre Flyer kurz vor Mensaschluss wieder von den Tischen einzusammeln. Auch ich drehte da manchmal meine Runden und sammelte die handkopierten Promozettel für örtliche JUZ-Konzerte ein. Irgendwelche Zettel blieben aber immer liegen und so sah man die Mensafrauen am Schichtende immer eine große, graue Tonne durch den Saal wuchten, in die sie die verbliebenen Zettel mit ausladenden Armbewegungen vom Tisch fegten. Das war vor Jahren. Heute waren die Tische blank und am Ausgang gab es, wie einen traurigen Kompromiss, einen extra Tisch nur für Flyer und es sah ein bisschen aus wie ein bescheidener Trostpreistisch bei einer Autohaustombola.

Während Paul auf dem Kletterding herumturnte, stemmte sich das Mensasaalgetriebe, sein fortwährendes Pausengeplauder und Geschirrgeschepper, auf meine heute ziemlich dünnen Schultern. Mein Gesicht war müde, schief und versteift, ich schwitzte, hatte kleine Beklemmungen und jedes Lächeln zum Kind allein in der Spielecke kostete Kraft. Die Studierenden drumrum waren jung und vital. Sie sagten „Bro“ zueinander und es war, als wäre ihre gute Laune eine nicht wegklickbare Werbung vor dem eigentlichen Video. Melancholien des Älterwerdens und ein irgendwie juckendes Empfinden einer eigenen Altheit krochen in mir rum. Es war echt kein so guter Tag bis hierher. Wir alle sind ja jetzt da: in so einem Alter. Irgendwer hat jetzt doch öfter mal irgendein neues Leiden. Es ist das Alter der ersten Warnschüsse. Der Mensasaal war, obwohl das Gebäude als Insgesamtes ein bisschen einschüchternd effizienzorientiert gebaut ist, hell und voll von Licht, aber nichts davon erreichte mich.

Nachdem ich eine Weile in all dieser jungen Hellheit in mich, ins dort bodenlos Trostlose reingesackt war – mein Teller mit den Kroketten und dem Mehlschwitzgemüse war lange schon leer – kam mein Kind zu mir, kletterte auf meinen Schoß und nestelte sich mit ein paar ruckelnden Bewegungen seines Hinterns zurecht, als wäre ich ein Nest. In der Spielecke hatte er einen Teletubbie gefunden und wir rätselten wie sein Name ist. Es war der rote Teletubbie, er sah abgegriffen und leblos aus und wir hatten die Sendung ewig nicht geschaut. Ich warf ausgedachte Spaßnamen in den Raum – Pimpie Pimpie, Pipsy, Schnala und Klo waren es schonmal nicht – und Paul klärte mich über die korrekten, immerhin so ähnlich klingenden Namen auf. Er setzte mich wieder ins Bild, als wäre ich für eine Weile mal rausgefallen. Er piekte seine Nudeln und erzählte von den Mängeln und Vorzügen der Spielecke. Er hielt die Gabel wie eine Buddelschippe, ich roch an seinem Haar und es war, als renkte ich mich wieder langsam in die Welt.

Draussen riss der Wind an den Klinikflaggen und auf dem Gepäckträger eines ungefahrenen Fahrrads klemmte eine verwitterte Ausgabe des örtlichen Studierendenmagazins. Auch da war wieder ein Kanal in alle möglichen Zeiten geöffnet. Ich hatte mich in diesen zwei Stunden, die wir in der Mensa waren, ein bisschen in irgendwas im Gefühlshaushalt eine ziemliche Unordnung schaffendes verstiegen und war mit diesen kleinen, rumrudernd ins Handy gebröckelten Notizen nicht wirklich weiter gekommen. Aber es war ein trauriges Bild: dieser krumm in sein ratloses Handy gebuckelte Vater und das auf dem Laufrad wartende Kind. Also steckte ich das Handy und alle Textmühen erstmal weg, straffte mich kurz, als gäbe ich der Einrenkung dadurch mehr Raum, und wir machten uns erstmal los. Denn wir mussten echt mal irgendwie weiterkommen jetzt.


Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.

Mit einer Spende kannst Du den Kran & Weuke Verlag und seine Veröffentlichungen unterstützen. Das Geld wird verwendet für Lektorat, Druck, Vertrieb, Öffentlichkeitsarbeit, Hosting und andere anfallende Kosten.