Sehr dünnhäutig, lichtempfindlich und ziemlich verkatert fuhr ich mit dem Rad zur Spätschicht und musste wegen der mich doch sehr stark erreichenden Eingangsakkorde von „Love Letter“ von Nick Cave zwischen den Platten kurz anhalten und ein bisschen heulen. Karl fehlte mir, aber es war irgendwie auch dieser gut bekannte Katerkummer, wie früher, in den Jahren, von denen der pausierte Roman erzählt, der ja selbst ein Motiv im Trauerbuch geworden war. Ich war bewegt von der Gegenwart meiner Freunde in der letzten Nacht und hatte auch sie betreffend diffuse Verlustängste. Gesundheit war mittlerweile ein Thema, auch die Orte, die bei allen jetzt anders, woanders waren, alles machte mich melancholisch.
Wir hatten tagsüber im Garten gesessen. Es gab einen Kasten Bier und es war fast wie früher. Ein kleines bisschen zeremoniell gab ich dann jedem ein Buch und es war mir irgendwie unangenehm, darüber ausgefragt zu werden, meine Selbstsicherheit mit dem Buch war zerbrechlich, aber ich wusste auch, dass es vielleicht ein guter Text, immerhin der wahrste Text dieses Lebens jetzt ist.
Als es regnete, ruckelten wir mit dem schon ziemlich vollgestellten Tisch unter die Korkenzieherweide – auch so ein Ort im Buch – und bestellten Burger gegen den seit dem Nachmittag dann doch irgendwie angetrunkenen Hunger.
Wir sprachen über unsere jeweiligen Leben, es war wieder viel zu wenig Zeit für all die Geschichten und die in den Biografiewinkeln gefundenen Wunden.
Und während wir diese durcheinandergeratenen Burger aßen, die der blonde Student mir im Hausflur in den zugetackerten Papiertüten überreicht hatte, schaute irgendwer aus seinem Handy hoch und sagte, dass Sinead O’Connor jetzt auch gestorben war und später gingen wir noch in die einzige an diesem Mittwoch noch geöffnete Bar.
Nach dem Job war es auch mein Fahrrad, das mich kurz traurig machte. Wie es da völlig allein in der Fahrradgarage stand. Es war wegen der Wolken obenrum schon um acht ziemlich dunkel, auch Musikhören war irgendwie trostlos, also radelte ich ohne Kopfhörer und hielt am Klinikum kurz an, um mal hinzuhorchen. Die Möwen und Schwalben, alles war mir vertraut. Die Enten auf dem Teich dümpelten ein bisschen im Kreis herum, aber es machte den Eindruck, als wollten auch sie gleich ins Bett. Der Rettungshubschrauber brüllte dann von links ins Bild und ich ging, wie ein Spinner, ein bisschen in die Hocke, um das Buch auf der Ententeichbrüstung und den roten Helikopter zusammen aufs Bild zu kriegen.
Dann fuhr ich heim und alles war immer noch seltsam und eigentlich hätte man da weitermachen müssen, wo man gestern aufgehört hatte und sich direkt wieder in die Bar setzen sollen. Aber alle waren schon wieder nach Hause gefahren und ich stapelte die letzten leeren Flaschen zurück in den Kasten.
Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.
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