Um etwas von diesem nur bei solchen Zusammentreffen zusammengebrauten Gemisch zwischenmenschlicher Melancholiegefühle mitzunehmen, hatte ich zuhause dann gleich – von 11 Zoll war ich jetzt auf 12 Zoll gewechselt – mit der einen Hand den neuen Schreibcomputer und mit der anderen den Ofen angemacht.
Ich war am frühen Abend, nach wieder einem Krankmitkindzuhausetag, nochmal raus mit dem Rad, weil eh das Klopapier zur Neige ging und wir, wie eine launige Quatschidee stieß das so hoch, unvermittelt Hunger auf Tiefkühlpizza bekommen hatten. Dass wir statt in den Urlaub zu fahren jetzt zuhause geblieben waren, nennt man, das hatte ich in einer Nachricht von N. gelernt, Staycation – und irgendwie passte dieser Junkfoodjieper prima zu dem, was dieses, das Zuhausebleiben bezeichnende, Hashtagwort aufmacht. Also hatte ich mir, immer noch in dieser seit Tagen nicht gewechselten, pludrigen Leinenhose und dem weissen Schlabbershirt (auch die sind eine Art elementares, wiederkehrendes Motiv im Trauerbuch), eins von den Ausgehsakkos übergeworfen und war im netten Wetter, mild und hell war es abends jetzt noch, die Straßen windlos und glatt, zum Edeka rübergeweht und hatte dort dann J. getroffen. Er lief, wie früher, einfach so im Laden herum, war aber ein Gast aus der Ferne. Er war vor Jahren weggezogen und heute von weit her, gerade eben erst, angekommen. Er hatte schon sechs Stunden Schienenersatzverkehr intus, und wir umarmten uns und er brachte das Gespräch gleich auf mein Buch, patschte mit der linken Hand auf seine Umhängetasche, da war es drin, das hatte er bei sich, und ich war gerührt und merkte, wie kurz irgendwas in mir aufstrahlte, und wir standen noch eine Weile ein bisschen im Gang vor den Veggiekühlsachen im Weg herum und zogen unsere Unterhaltung dann um in die Keksnische.
Auf halber Strecke hatte der Ofen dann schon die gewünschte Temperatur erreicht. Ich war eigentlich voll im Text, hievte mich aber an die Pizzakartons und fuchtelte, ungeduldig und in Angst, ich könnte was von den aufkochenden Worten verlieren, die Dinger aus den Packungen, schob sie in den Ofen und erhoffte mir nochmal packungsgemäße 11 – 13 Schreibminuten auf mittlerer Schiene.
Vor dem Biskuitspezialitätenregal unterhielten wir uns über damals und heute, über unsere Kinder und über das Nachtleben, in das J. heute Abend im Ravic mal wieder eintauchen würde. Da wo er jetzt wohnt, und auch an allen anderen Orten der Welt gibt es kein Ravic und da war es jetzt wichtig, dass wir kurz darüber sprachen. Über diesen Ort, an dem wir uns damals kennengelernt hatten, an dem wir das erste Mal länger miteinander gesprochen hatten, draussen auf dem Gehweg, ich glaube es war schon hell, es war jedenfalls jenseits der normaleren Zeiten, in denen wir beide ja irgendwie heute dann doch gelandet waren. Und von diesem Reden über all dieses Damals kamen wir dann noch auf meinen Roman, den ich ja seit Karls Tod nicht mehr schreibe, über den ich im Trauerbuch immer wieder geschrieben hatte, und in den ich mir vielleicht, das verstärkte sich in diesem Moment als gute Idee in mir, dann doch, im kommenden Herbst wieder hineinzugleiten erlauben könnte. Denn dieser seit dem vorjährigen Sommer pausierte Roman muss, wenn, dann im Herbst weitergeschrieben werden. J. stellte dann, es war seltsam aber irgendwie auch wahr, die Frage in den Edekaraum, wie sowas wie ein Roman also nun an diesen Riesentext über den Verlust meines Kindes überhaupt heranreichen könne. Er hatte gesagt, er müsse bei diesem Buch ständig heulen, aber unvermittelt kämen immer wieder diese Momente des Lachens, bei Anekdoten über Edekaeinkäufe oder andere Dinge des Alltags. Und auch er sagte, es sei so viel Liebe im Buch. Ich war so froh, das zu hören, hatte wieder dieses Gefühl, dass wenigstens das dann irgendwie einigermaßen gelungen war, und mir war egal, ob und wie weit und wohin und wofür mein Roman vielleicht irgendwann reichen könnte.
Und dann gingen wir zu den Bieren, er nahm ein Rotkehlchen und ich kaufte irgendeine noch nie probierte Biersorte aus dem Pott und dann gingen wir zur Kasse, er lud mich zum Bier ein und ich bezahlte nur meine Pizzen und wir gingen dann noch bis zur Kreuzung gemeinsam und es stand irgendwie die Möglichkeit im Raum, dass ich, sowieso schon latent verkollert von den Tagen daheim, abends nochmal ins Ravic ausflöge. Ich sagte, dass ich vielleicht zuhause noch was schreiben wolle und, dass ich nicht glaubte, dass ich später noch dazustieße. Also umarmten wir uns, er ging richtung Innenstadt und es war ein bisschen wie früher, als am Ende der Nächte die Kreuzungen uns in verschiedene Wege sortiert hatten. Und dann hatte schon der Ofen gepiept und der Text hatte diese Minuten weggefressen und beim Rausholen der heißen Pizzen fiel mir dann auf, dass ich das Klopapier vor lauter Zwischenmenschfreude vorhin im Laden schlichtweg vergessen hatte.
Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.
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