Im Februar hatte ich dann meine Geheimzahl vergessen. Ich war mit Paul, bei einer dieser Vormittagsfrischluftrunden, im Regen zur Bank gelaufen und die Zahl war unrettbar weg. Auch aus dem Körpergedächtnis war das Eingabemuster an der Zifferntastatur des Automaten wie ausradiert. Sofort kleine Panik, weniger wegen der Zahl, die stünde ja vielleicht zuhause noch irgendwo in den Ordnern, eher weil ich dachte, dass jetzt irgendwas dann doch gänzlich kaputt gegangen war, obenrum, kognitiv. Dass im Kopf dann jetzt doch alles, das man sonst so mühselig, um als Mensch einigermaßen alltäglich zu funktionieren, beieinanderhält und zusammenrafft, auseinanderzustieben begann. Ich stand vorm Automaten, zerfiel innendrin und sagte meinem Kind, im Tonfall eher ulkig als ohnmächtig, dass ich ein ziemlicher Schussel sei. Ich sagte das in dieser etwas albernen, auktorialen Elternart: „Der Papa ist heute aber ein ziemlicher Schussel“, sagte ich und fand mich gleich völlig bescheuert dabei, weil doch nicht „der Papa“, sondern ICH, dieser auseinanderfleddernde Menschrest, der beschissene Schussel war, und ahnte schon, dass ich ausgerechnet diesen blickdichten Brief mit der Geheimzahl weggeschmissen und nur wieder die falschen Zettel abgeheftet haben würde.
Auch im Buch über meine Trauer ist die kognitive Zerfransung immer wieder Thema. Der trauernde Mensch zerfällt jeden Tag an einem anderen Ende. Im Alltag zu bleiben kostet wahnsinnig Kraft. Leistungen des Gehirns sind oft nur eingeschränkt möglich. Ich wusste oft nicht, wie irgendwelches Spielzeug heisst, das Paul mir unter die Nase hielt. Ich war noch wirrer als sonst schon, aber das Schreiben funktionierte. Es war etwas, das mich fokussierte. Ich schrieb diese hundert Tage Trauerarbeit hin und war danach ziemlich alle, ließ den Text erstmal liegen und fing ein paar Wochen später an, ihn zu korrigieren. Ich machte dieses Buch aus der Trauer um mein gestorbenes Kind und es war irgendwie etwas, das ich jetzt noch tun konnte. Dass dabei die doofe Bank-PIN verloren gegangen war, war dann irgendwie auch egal. Jeder Gang zum Geldautomaten war ohnehin immer eine Art Lotterie. Auch das, dieses prekäre Gewurschtel, ist im Trauerbuch Thema. Die Steuererklärung, die ich machen musste, obwohl mein Kind doch gestorben war. Die Kämpfe mit der Krankenversicherung. Die kleinen Einkünfte aus den kleinen Konzerten, die ich spielte. Die großen Drohbriefe des Arbeitsamtes, die daraufhin folgten. An allen Ecken waltete die Gewalt der Geldwelt. Taub von der Trauer, wankte ich auch da irgendwie durch und schlimm war nur, dass ich an diesem schussligen Februartag kein Geld abheben konnte – für vielleicht ein Eis für Paul und frische Blumen für Karls Grab.
Zuhause, im Ordner, hatte ich tatsächlich nur völlig obsolete, analoge TAN-Listen und eine ungeöffnete Telefonbanking-PIN abgeheftet. Die alte Geheimzahl blieb seitdem ein Geheimnis und die neue Zahl, mit der mir der Automat am Monatsanfang jetzt Geld ausspuckt, ist ausgerechnet eine Kombination hochautobiografischer Zahlen, die zu vergessen dann wirklich ein ziemliches Armutszeugnis wäre.
Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.
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