Nach Tagen zuhause mit dem kranken Kind auf dem Sofa hatte sich dann doch so eine Art Koller eingestellt. Der Tag gestern verknautscht und der Abend irgendwie leer. Ich war tagsüber zu nichts gekommen, war ein unrastiges, kurzluntiges Schwein. Nachts hatte ich, als eine Art Fleißarbeit, um wenigstens irgendwas noch hinzukriegen, Fließtextproben am Fließband gestaltet. Ich suche für das Trauerbuch weiterhin eine neue Schriftart. Die auf 580 Seiten gedrungende Vorabauflage ist dann doch irgendwie wirklich etwas klein geraten. Obwohl ich diesen radikalen Massentextwahnsinn eigentlich auch ganz gerne mag. Serifenlos und rund, das stimmte schonmal, aber beim Versuch, im Dimmlicht in der Wanne ein paar Seiten darin zu lesen, merkte ich, wie kontrastarm und klein dann doch alles ist. Also wurschtelte ich nachts noch dutzendfach Schriftproben hin, seitenweise Buchauszüge in verschiedenen Typen, und fühlte mich dann doch wieder, nach Tagen des verdrießlichen Rumgetaumels, unklar und ungehalten in Bezug zu dem jetzt plötzlich wirklich Buch gewordenen Text, auf einem guten Weg. Dass dieser Text, dieser wahnsinnig lange Text, in einem guten Mittelweg nun doch lesbar UND platzsparend setzbar sei. Vielleicht käme ich mit 700 Seiten am Ende hin. Auch das wäre ja vielleicht irgendwie bezahlbar. Und dann wäre das Buch nochmal einen Brocken schwerer und wöge wirklich einen Kilo. Das war der gute Gedanke, mit dem ich dann ins Bett gefallen war.
Heute morgen, draussen war sofort alles wieder grau, hatte man gleich das Gefühl, man müsse direkt wieder ins Bett. Zum Mittag gab es Essen aus drei Komponenten, bürgerliche Küche, und ich fühlte mich danach direkt wieder etwas mehr wie ein Mensch eines echten Lebens.
Die letzten Tage war ich, auch weil ich mit der neuen Buchauflage nicht nennenswert vorangekommen war, irgendwie dünnhäutig, sinnlos und zwischen Allem. Vielleicht vom Essen, vielleicht auch weil alles ja immer dann doch seine Wellen macht, hatte ich mich dann also aufgerafft und wir hatten im Kinderzimmer gebohrt, gebaut und geschraubt. Zwischen den Werkzeugkisten das ausgewaschene Ovomaltineglas. Es ist im Buch ziemlich wichtig und ich hatte es, als es leer geworden war, dann zu den Werkzeugen gestellt, für vielleicht Schrauben oder was man so hat. Keksdosen, Eisbottiche, Marmeladengläser, Ferreroschachteln: die über Generationen weitergetragenen Werkzeugbehältnisse. Die Ovomaltine: ein Artefakt aus der Krankenhauszeit mit Karl.
Abends fuhr ich zum Friedhof. Am Seiteneingang hatte ein Wohnmobil geparkt. Ein halbnackter Mann saß darin und schüttete eine Tasse braune Suppe aus dem Seitenfenster aus. Seine Mine war entschlossen und beleidigt, als wäre der Kaffee sein Grund – für eine Schieflage, für dieses ausgezogene Leben. Ich rätselte kurz, ob auch er, als ein Hinterbliebener, diese Nähe zum Friedhof suchte oder ob das hier nur sein billiger Stellplatz war. Ich war wieder ins minutiöse Schreiben geraten, wie im Buch. Das Handy war fast leer, die backsteinschwere Powerbank kriegte den Saft nicht rauf und jedes mit meinen dummen Daumen in die Handynotizen gedonnerte Wort saugte einen Prozentpunkt mehr weg. Alles war nass vom tagelangen Regen. Der Weg war ein flacher Bach. Meine billigen Stoffschuhe von der Wiese sofort nass. Überall Pilze mit breiten Krempen. Die getöpfterte Schale mit seinem Namen darin, gemasert grün, gelb und blau, türkis wie ein See. Die Vögel trinken daraus. Die Grabvasen am Vasensammelplatz waren wie Trompeten voll Wasser.
Tagsüber hatte Carina einen Instagramkuchen ohne Mehl gebacken und ich war nach einer heftigen Husche in den Hof gegangen und hatte Brombeeren fürs Topping gepflückt. Und zwischen allem war ich sogar noch kurz an den Text gekommen. Die Proben von gestern sahen heute immer noch gut aus. Die Schrift ist immer noch serifenlos und rund, die Millionen Zeichen finden irgendwie zu einem Bild. Ich war wieder näher bei meinem Buch, ins Ovomaltineglas hatte ich verstreute Winkel verstaut und noch am Abend roch es in der Bude nach Bouletten und einem ehrlichen Leben.
Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.
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