Gestern abend war ich seit langem mal wieder zum Klinikum geradelt, hatte mich dort an meinen Schreibort unterm Vordach der neuen Mensa gesetzt, Nachrichten und einen Text geschrieben, war danach, wie im Buch ständig – wie also vor einem Jahr, kurz nach seinem Tod – nochmal rein, dort die Wege in den Fluren und Etagen abgelaufen. Die Neonatalogie ist jetzt umgezogen, hoch ins zweite Stockwerk. Der Eingang war jetzt verwaist und der Kuschelstorch, der seine roten Beine von der Deckenlampe baumeln lässt, nicht mehr der korrekte Ortsanzeiger. Damals, in den ersten Monaten der Trauer, war auch dieser Storch wichtig. Ich war immer wieder hin, tippte im Vorbeigehen seine Füße an, als eine Art Akt der Andrahtung, stand manchmal ein bisschen vor der Stationstür herum, bei den angemalten Elefanten und Mäusen, war manchmal kurz davor zu klingeln, wie ich damals immer geklingelt hatte, wenn ich mit Karl vom Spaziergang, oder nachts, als er schlief, von meiner Kaffeerunde durch die stille Klinik zurück kam.
Dass die Station dort jetzt nicht mehr ist, war dann gar nicht so schlimm. Meine Trauer war jetzt bereit, auch andere Orte zu finden. Mein gestorbenes Kind konnte ich jetzt, nach über einem Jahr, noch mehr überall finden. Ich musste nicht mehr täglich überall hin, wo das Kind nicht mehr war, wo ich ihn deshalb – als ausgetragenen Akt, als immer wieder hingetragenes Artefakt – durch mich immer hinbringen und andrahten musste. Auch das Raucherkabuff war jetzt leer. Nach dem Klinikum war ich noch meine Runden mit dem Rad gefahren, beim Plusnetto ein kleiner Einkauf, und dann war ich in die lange Nacht gesunken und war am mittelspäten Morgen ziemlich verkatert aufgewacht.
Vormittags hatte Carina alle Schuhe aus dem Regal und dem Schrank geholt. Ein Berg aus jahrelang ungetragenen Botten lag im Flur. Paul fand den Anblick irgendwie beeindruckend, stand kurz lächelnd da, das war auch wieder was Neues jetzt, es war was los in der Bude, in der wir mit den Resten des Fiebers seit Tagen gehockt hatten. Wir sortierten dann radikal aus und weil ich mit meinen Schuhen sowieso immer sehr leidenschaftslos bin, war nichts sentimentales daran. Ich bin ganzjährig ein Mann der dünnen Stoffschuhe und muss mir mit diesen Dingern offenbar einen nach innen neigenden Knickfuß angelaufen haben. Sören hatte mich gestern darauf hingewiesen, als wir durch das angenehm unprätentiöse Wetter des Nachmittags zum Spielplatz geschlendert waren. Ich hatte meine Füße unverwandt angeschaut und gesagt, dass mir meine Füße nie sehr nah waren. Das war die Wahrheit, denn sie sind das, was am weitesten von meinem Kopf entfernt ist, aber es klang ausgesprochen etwas unangemessen respektlos gegenüber dem eigenen Selbst und ich war dann in kleine Grübeleien geraten, über Haltungsschäden – körperlich, aber auch seelisch – und meine insgesamt dann irgendwie doch sehr krumme Natur. Ansonsten war der Tag aber sehr schön. Die Kinder spielten miteinander und wir Erwachsenen saßen am Rand auf der Bank und sprachen über frühere Zeiten.
Nach dem Schuhgewühle dann einmal mit dem neuen, beutellosen Staubsauger durch den langen Flur. Der tätowierte Postmann hatte ihn gestern gebracht und auch er war irgendwie was aus der Babyzeit. Er hatte damals immer die Windelpakete und diese ständig eintreffenden Babysachen gebracht. Winzige Klamotten, Nuckelflaschenaufsätze, Mobilés und kleine Möbel waren in den Paketen, die er mir unten im Hausflur an die Brust drückte. Ich war ihm immer entgegen gekommen, die Treppe runtergelaufen, wie ich allen Zustellleuten, egal ob Pizza oder Paket, immer die Treppe entgegen gehe, weil ich es generell unmöglich finde, Menschen für irgendwas mich betreffendes durch die Gegend schicken zu müssen. Auch mein raubeiniger Postmann schien immer erfreut, besonders an den heißen Tagen. Wir wechselten ein paar unkomplizierte Worte und oft hatte ich die karierte Haushose an, sah aus wie ein Edelpenner, als dieser glückliche Vater im ersten Babyjahr daheim. Er war mir als ein Teil dieses neuen Lebens sehr willkommen. Unser Entgegenkommen im Hausflur war einer dieser kleinen Akte, die das Leben irgendwie erträglicher machen. Ich wusste nichts von seinem sonstigen Leben, aber es lag irgendwie auf der Hand: unser Postmann ist ein Bukowski. Manchmal sehe ich ihn auf den Radwegen an seinen kleinen Laster gelehnt. Rauchend steht er dann bei Frau Brettschneider vorm Kiosk, wo er die unzustellbaren Pakete ablagert. Auch Frau Brettschneider hatte es, als eine dieser unregelmäßig in meinen vergangenen Jahren immer wieder auftauchende Konstante, ins Trauerbuch geschafft.
Dann war ich mit Paul in der Stadt und hatte Mühe, mit seinem Laufrad Schritt zu halten. Seit dem tagelangen Fieber letztens, hat er wieder einen Schub gemacht. An einer Hauswand in der Wachsmannstraße ein sympathisch trostloses Graffito: „Manko“ stand dort, und ich las das auf eine Art als ein Schlagwort für unser Leben seit Karls Tod. Aber eigentlich, und das machte es etwas leichter, war es auch nur eine poetische, anderthalb Meter hohe Notiz über den insgesamten Zustand der Welt. Im DM saß ich dann auf der Bank neben der Spielecke, mal wieder kraftlos und matt, ein paar Minuten dröge einfach so herum, als ein rastender, kurz ziemlich angenehm zustandsloser Mensch. In einer Zu-Verschenken-Kiste in der Bahnhofstraße war nur Müll. Es gibt gute und schlechte von diesen Kisten. In den Nebenstraßen funktionieren sie besser. Mein Kaputzenhoodie, auch ein Stück meiner Kleidung, die ich im Krankenhaus trug, stammt aus einer solchen Kiste. Die Bahnhofstraßekiste war, als Opfer ihres Standorts, mittlerweile unumkehrbar zum Mülleimer geworden. Aber das war egal. Dieser Müll war nichts, das meine Trauer kränkte.
Zum Mittag Senfeier und draussen die Wolken. Nachmittags hatten wir die Kiste mit den eingelagerten Babysachen vom Schrank geholt und saßen zwischen den Erinnerungsstücken und erzählten die dazugehörigen Anekdoten. Auch Paul sprach von Karl. Alle waren irgendwie da, das gestorbene Kind immerhin in Erzählungen. Nachmittags dann wieder raus, Rumstromern und Schokoeis. In der Flanierstraße spielte einer Geige. Er sah aus wie ein Tramp, irgendwie traurig und verkargt. Seine Musik war sehr schön und über ihm war der Slogan des Kettenbäckers: „Echter Genuss“ stand da und es war ausnahmsweise die Wahrheit. Und Josef, auch einer dieser guten Stadtgeister, lief mir mit seiner Himalayamütze voll in die Aufnahme rein.
Zurück über den Wall. Ein Windelwechsel im Gras auf dem Spielplatz. Die riesige Weide, nahe am Bahnhof, hing ihre Fransen theatralisch unter den Himmel, der sich, fast wie ein Deckenfresko, obenrum, über diesem letzten Tagesdrittel nicht weniger melodramatisch breit machte und wie eine gütige Gewalt den Regen dann doch nicht auf uns runter goss.
Martin Hiller hat mit „Frau Elster und der eingestickte Wal“ ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. Diese Einträge berichten von der Zeit nach seiner Fertigstellung.
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