Morgens auf dem Radweg zur Arbeit war es schon kalt. Vom Herbst war schon was an den Straßenrand gestellt, aber der September war noch nicht mal da. Es roch nach Rauch, von den ersten angemachten Kohleöfen, vielleicht auch den frühen Laubfeuern in den Schrebergärten. Der Geruch, das Licht, die noch fast leeren Straßen, es war viel mehr als irgendein Wetter, es war ein ganzes Klima, eine Art Gehalt, von dem mein morgendliches, müdes Geradel zum Job ein kleiner Teil nur war. Es war fast wie im pausierten Roman, in den ich ja mit dem Herbst wieder einsteigen wollte. Aber ich war zu wenig wach, zu kraftlos und auch zu gut in Fahrt, als dass ich für eine Notiz zur Lage der inneren und äußeren Verhältnisse hätte anhalten wollen.
Auch im Elsterbuch gibt es diese mikroskopische Detailvernarrtheit. Meine Umwelt, die Wetter, die Klänge, die Geräusche und Gerüche, die Routinen – alles sank ungefiltert in mich, ich nahm alles auf, weil eventuell alles wichtig und voll von Gehalt war, als etwas, das mich mit Karl noch verbinden könnte. Erst später, nach dem Schreiben der hundert Tage, hatte ich dann gemerkt, wie kraftraubend all diese offenen Sinne eigentlich waren. Aber wie gut sie auch waren. Nur so war ich dort geblieben: bei Sinnen und bei ihm, bei meinem gestorbenen Kind.
Irgendwie plätscherten diese Begleittexte hier, diese Weiterschreibungen des Buchs, von denen ich in den ersten kleinen Jubelgefühlen gedacht hatte, dass auch sie ein kleines Buch werden sollten, zur Zeit wieder ins Leere. Die Schreibmanie war abgeflaut und jeder Text kostete mehr der raren Energien als sonst. Und dann hatte ich irgendwann jüngst mein Profilbild bei Facebook auf ein uraltes, juvenil-spezialcooles Zigarettenphoto geändert, und dass es sofort unverhältnismäßig mehr mit blauen Daumen und roten Herzchen als meine zerbrechlichen Texte markiert wurde, war für mich gleich wieder ein Beweis für die Stumpfheit und Geilheit der Welt auf schrille Signale und schmucken Scheiß.
Also trollte ich mürbe und müde durch diesen letzten Rest vom August. C. mahnte, ich solle mal früher ins Bett. Es sei schon wieder „kurz vor Schlaganfall“ sagte sie, und irgendwas zuckte heftig in mir bei diesem halbbeiläufig ausgesprochen guten Rat. Ich war in der Tat die Tage wieder sehr gereizt, hochempfindlich für alles auf mich Einprasselnde, die Sinnesreize nur schwer auseinander halten könnend, mehrere Gespräche im selben Raum waren kaum voneinander zu trennen, mir fehlte der Fokus, die Tage waren zu grell, alles war wie ein einziges, schiefes Geräusch. Aber wo, wenn nicht in der Nacht wären sonst noch Stunden abknapsbar, für all dieses Schreiben? Aufhören war keine Option. Die Brotarbeit konnte ich auch nicht einfach so hinschmeißen, nicht schon wieder, wie all die Jahre oft, in den hanebüchenen Start-Up-Jobs, oder bei der Rundfunkanstalt, bei der mir der Transfer von meinem ausschweifenden Schreiben zum Abliefern onkelhafter Kurzbeiträge schlichtweg nicht gelungen war. Weil mein Schreiben, wahrscheinlich sogar mein ganzes Leben, keine Kompromisse kannte, weil ich ein junger Depp war, der sich mühte irgendwelchen Mühlen gerecht zu werden und dabei nur noch mehr ins Hadern und Stolpern kam. Erst Jahre später, als mir alles egaler wurde, wurde alles wieder entspannter. Und mit den Kindern war ich dann wirklich was völlig neues, anderes, nie dagewesenes geworden: ein Vater.
Ich hatte dann meine fünf Stunden runtergeballert und auf dem Heimweg hatte ich an die Episode mit den Clusterkopfschmerzen denken müssen. Auch die ist ein Kapitel im Buch. Nach einem kurzen Innehalten und der Einnahme eines koffeinhaltigen Kaffeegetränks – „Kaffeepause“ klänge irgendwie zu müßiggänglerisch – waren wir dann mit Paul zur ersten Kindermusikstunde gegangen. Es waren die üblichen Innenstadteltern, die mit ihren Kleinen da waren. Menschen mit Rollrucksäcken, Gemüsekistenabos, Wassersprudlern und Wildlingschuhen. Wir saßen alle im Kreis und ein mir gegenüber sitzender Papa hatte sich dann zeitweise ein bisschen an mir festgestarrt und ich hatte kurz wieder diese seltsame Gefühl, eine Art Negativbeispiel für irgendwas zu sein. Dieser Gedanke war aber Unsinn und in Verbindung mit meiner Trauer, mit mir als trauerndem Vater, ergab es keinerlei Sinn und so war irgendwie nichts Schamiges an unserem Blickwechsel und wir hatten ihn anderthalb Sekunden gehalten und uns nicht peinlich ertappt abgewendet und so die insgesamte, eventuell kindische Situation für beide Seiten in irgendwas Erwachsenes rübergerettet. Und ein kleines bisschen tat er mir auch leid. Es war – das war kurz der pathetische Gedanke, der pastetenartig in mir rumschlotzte – als hätte er für meinen Moment in meine dunkelsten Abgründe schauen müssen. In den Gesichtern der Trauernden ist etwas spezielles gespeichert. Auch im Buch war ich noch nicht wirklich rangekommen, mit den Worten, was es genau ist. Es ist eine Kenntnis vom anderen Ende des Lebens, dachte ich dann erstmal behelfsmäßig als große Phrase und bemühte mich für die weitere dreiviertel Stunde, irgendwie sowas wie Offenheit in meine Züge zu bringen.
Dann wurden Klanghölzer und Triangeln verteilt und später hopsten wir alle im Kreis herum und warfen bunte Tücher in die Luft. Die bunten Tücher waren die Sonnenstrahlen und immer wenn die Musik aufhörte mussten wir aufhören im Kreis zu hüpfen. Die Kinder fanden es alle irgendwie ganz super, nur wir Erwachsenen waren ein bisschen hüftsteif und unlocker. Wie große, ungelenke Altvögel staksten wir im Raum herum und dass wir ein buntes Tuch zum Rumfuchteln in der Hand hielten, gab eine segenreiche Form der Sicherheit.
Dann war noch was dran am Tag und wir gingen in die Stadt und C. holte sich einen Termin bei der Thaimassage. Der Hauseingang war schmal wie die Wohnhäuser in den Seitenstraßen am Mittelmeer. Die Treppe nach oben eng und gewendelt. Es roch gut im Hausflur und im Warteraum waren Bastmöbel und Lotusblüten. Paul war betont leise, als gingen wir in ein großes Museum oder zum Arzt. An der Eingangstür war ein nüchternes Schild, das darauf hinwies, dass man sich vor dem Besuch bitte reinigen und frische Unterwäsche anziehen solle. Das Schild und die Vorstellung, dass die Massagesalonbetreiberin, diese zurückhaltende, freundliche Frau, es hatte anbringen MÜSSEN, weil es offenbar VORFÄLLE gab, dass also anscheinend in der Vergangenheit mal jemand einfach ungewaschen und mit Bremsspur im Schlüpfer zur Massage gegangen war, war auch wieder so ein Beweis, dass die Menschheit ein dummes Schwein ist. Dass manche Leute echt nichts mehr merken, oder – dieser Gedanke machte es nur noch schlimmer – dass es vielleicht gar Leute gäbe, die aus Unumsichtigkeit, Absicht oder reiner Schikane ihrer Umwelt als rücksichtslose Stinker gegenübertreten, war schwer zu ertragen. Alles Körperliche und Menschliche war plötzlich wieder sehr eklig und ich merkte, wie ich mich schon wieder so merkwürdig einigelte, dass mir eine Lockerheit abhanden gekommen war, dass ich wieder ins Innerwärtige strömte, als Aushalter meiner Gefühle irgendwie implodierte, und insgesamt schon wieder völlig windschief zwischen den blöden Böen des Alltags umherwankte.
Aber meine Schlüpfer sind sauber und dass ich zur Zeit wieder ein bisschen ins Misanthrope glitt, käme denen ja vielleicht ganz gelegen: den mich ansonsten aushalten müssenden Menschen.
In der Gemüsekiste gab es dutzende Tomaten, also aßen wir, wie schon seit Tagen, abends dann diese delikaten Tomatenbrote und sie waren das genau richtige Symbol für die kleinen, unaufdringlichen Feinheiten der Welt. Irgendwas Gutes gibt es irgendwie doch noch, manchmal. Gemüse also, immerhin. Später dann kroch es von draußen jetzt schon kühl durchs angekippte Fenster in die Küche. Ich zog die Kaputzenjacke aus der Fundkiste über – auch sie ein Relikt jener Zeit mit Karl – und zündete für die Schreibnacht endlich mal wieder eine Kerze an. Es ist gut, wenn sich irgendwas ein bisschen bewegt, wenn ein Flämmchen bei jedem kleinen Schnaufen des Schreibenden seine Verrenkungen macht, wenn irgendwas ganz sachte lebt.
Ich hörte akustische Musik, die mit dem seit seinem Tod nicht mehr weitergeschriebenen Roman zu tun hatte und ließ mich damit vorsichtig schonmal in seine Richtung und in sein Weiterschreiben in den jetzt schon langsam anfangenden ausgehenden Wochen des Jahres wehen. Und als ich mich ein paar Stunden später fürs Bett fertig machte, hatte ich dann, bevor ich sie in den Wäschekorb warf, doch noch mal einen entschuldigenden Kontrollblick in meine Unterhose gemacht.